1944. Bombenkrieg, Teenagerliebe und Soldatentraumata – Arno Geiger widmet sich in seinem Roman „Unter der Drachenwand“ dem letzten Kriegsjahr. Er entwirft ein Bild des beschädigten Lebens, zwischen dessen Einschnitten Momente der Normalität ein irritierendes Glück bedeuten.
Ein eigenes Leben
Veit Kolbe ist ein junger Soldat aus Wien, der nach einer Verwundung an der Ostfront Quartier in Mondsee auf dem Land nimmt. Dort lernt er zum ersten Mal ein Leben für sich selbst kennen. Aus der Wiener Wohnung seiner Eltern ist er vor der aggressiven Bescheidwisserei des Mitläufer-Vaters geflohen. Der Front ist er vorläufig entkommen, doch auch die Landbevölkerung ist vom Krieg gezeichnet.
Auch die Darmstädterin Margot ist mit ihrem Baby in Mondsee gestrandet und froh darum, dem Geschrei ihres Elternhauses entkommen zu sein. Dafür hat sie die Heirat mit einem Soldaten in Kauf genommen, den sie nur flüchtig kennengelernt hat.
Margot und Veit richten sich bei einer verhärmten Zimmerwirtin ein, die Veit – wie viele andere Dorfbewohner auch – an die Front zurück wünscht. Doch dieser lernt mit Margot und ihrer Tochter und im Gewächshaus des tomatenanbauenden Brasilianers eine Form von eigenem kleinen Leben kennen, die ihn aus seinen Angststörungen und Albträumen rettet.
Kleinigkeiten
Über all dem schwebt die Frage, wo das Leben eigentlich ist und was davon bleibt – sie schwebt zwischen den Figuren und über ihrer Landschaft wie die Flugblätter der alliierten Bomber, die ihre todbringende Ladung über den Heimatstädten abwerfen. Der Krieg hole aus den Charakteren das Schlechteste heraus, stellt Veit einmal fest. Das stimmt in Bezug auf die ältere Generation in fast allen Figuren. Sie verraten einander, sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht und verhalten sich kalt gegenüber den traumatischen Erlebnissen des Soldaten. Gegen die Vereinnahmung der Älteren stehen die Lebensversuche der Jungen. Gemeinsam gerauchte Zigaretten, das Gefühl, entkommen zu sein, brasilianische Liebeslieder und die ersten Schritte des Kindes – darin besteht hier das Glück. Zugleich ist es der Einsatz für Andere, den Veit auf sich nimmt, gerade aus seiner Individualität heraus und nicht aus dem kollektivierten Gehorsam des Soldaten.
Die Stimmen des Jahres 1944
„Unter der Drachenwand“ ist ein Buch von besonderer sprachlicher Zartheit, in dem an Grausamkeit doch nichts ausgespart wird, was die Kriegsliteratur lange tabuisiert hat. Es ist ein Buch, das in Form von Tagebuchnotizen, Briefen zweier verliebter Teenager, versförmiger Gedanken und den Nachrichten einer jüdischen Familie die Suche nach einem ruhigen Leben variiert. Gerade in dieser Vielstimmigkeit liegt eine Stärke in der Konstruktion des Romans, damit entkommt er dem drohenden Eskapismus.
Veit und Margot entwickeln mitten im Krieg und unter einem Himmel voller Bomber ein Gefühl dafür, dass ihr Leben eigentlich ihnen selbst gehört – eine verblüffende Einsicht in einem totalitären System, in dem die verschickten Mädchen vor allem den Gleichschritt lernen.
In der Nachbemerkung ist zu lesen, wie es den Figuren nach dem Krieg ergangen ist – hier reichen sie bis in unsere unmittelbare Vergangenheit herein und wirken darum noch glaubwürdiger.
Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Carl Hanser Verlag, 2018, 480 Seiten.