Während meiner Lektüre von Judith Schalanskys neuem Buch gingen verloren (in Auswahl): Die rot-gestreifte Wolldecke aus dem Kinderwagen, meine Strickjacke beim Kinderturnen (beides wiedergefunden), einige konkrete Hausbaupläne meiner Familie, zahlreiches Herbstlaub (muss sofort weg!) und auch mehrere hundert Häuser bei Waldbränden in Kalifornien. Dazu wurde mein großes Kind fünf Jahre alt und wird nie mehr vier sein.
Judith Schalansky beginnt ihre Erzählungssammlung mit einer Aufzählung von Dingen und Orten, die verloren gegangen sind. Sie holt dabei Meldungen aus den letzten Jahren zurück ins Bewusstsein: Der Tod des letzten Nördlichen Breitmaulnashorns, zerstörte Kulturgüter in Syrien und Irak usw. Das ist die erste Seite des Buches – die zweite handelt von Wiederentdeckungen und dem Finden. Zwischen Suchen und Finden, Vergessen und Erinnern bewegt sich die Autorin in den Erzählungen dieses Bandes gewandt. Aus dieser Bewegung entsteht etwas Neues: Ein Buch, das vielleicht bleibt. „Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen“, schreibt die Autorin im Vorwort.
Erzählen und Wiederfinden
An der Bandbreite dieser Erzählungen von der Antike bis zum Palast der Republik, merkt man Judith Schalanskys breit gefächerte Bildung an. Die Texte sind stilistisch und perspektivisch heterogen. Mal ist die Erzählstimme auf die Erlebnisse eines Tigers bei Römischen Spielen im Colosseum fokussiert, mal erzählt sie in Ich-Perspektive von eigenen Erfahrungen auf der Suche nach Verlorenen. Dabei wird sie niemals nostalgisch; das Buch ist von Leichtigkeit und Witz berührt. Am stärksten finde ich die Erzählerin da, wo sie ihre eigene Geschichtensuche zum Thema macht. Sie begibt sie sich zum Beispiel lesend auf die Suche nach Monstern, wobei sie in der Einsamkeit einer Berghütte langsam erkrankt. Ich folge ihr bei der Suche und gerate selbst ins Suchen. Die Texte rücken nicht so sehr den Verlust in den Vordergrund, sondern oft das Dagewesensein – hier zeigt sich, was Literatur vermag: Sapho vergegenwärtigen oder die Perspektive eines Tiger. So geht es in den Texten auch immer um das Weiterleben und Wuchern der Erinnerung.
Ein feines Analogon
Die feine Gestaltung des Bandes übernahm Schlansky als versierte Buchgestalterin selbst. Sie hebt sich unter den billigen Pappeinbänden und bunten Schutzumschläge der aktuellen Buchauslagen ab und zeigt, dass sie auf etwas anderes zielt, als auf das schnelle Geschäft. Der weiche schwarze Einband mit den schimmernden silbernen Punkten löst bei jedem Bücherfreund sofort einen Beschützerinstinkt aus. Die Gestaltung im Buchinneren versetzt, wie die Erzählungen selbst, ins Suchen und Nachsinnen: Zwischen den einzelnen Kapiteln sind schwarze Seiten eingebunden, auf denen glänzend Abbildungen der verlorenen Orte und Dinge durchschimmern. Man muss sie bewegen, um etwas erkennen zu können.
Man darf dieses Buch gewiss als auf das wunderbarste analog und nicht-digital verstehen (sodass es mir etwas widerstrebt, es hier zu besprechen). So reihen sich Bücher in als Medien des Bewahrens und Erinnerns ein. Ich wünsche Judith Schalanskys Bänden, dass sie sich in möglichst vielen Exemplaren an möglichst vielen Orten dem Verschwinden lange widersetzen.
Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste. Berlin: Suhrkamp 2018, 251 Seiten.