Wenn ich Rachel Cusk lese, ist mein Mund vor Staunen leicht geöffnet, glaube ich. Nach Outline (2014) und Transit (2016) ist Kudos der jüngst erschienene dritte Teil ihrer „weiblichen Odyssee im 21. Jahrhundert“. Die Bände lassen sich gut einzeln lesen und überzeugen mich als Spielplatzleserin durch die brillianten kleinen Porträts immer neuer Figuren, die in sich viele kleine Romane enthalten – der Alice-Munro-Effekt.
Ansonsten unterscheiden sich Cusks Texte von denen der Nobelpreisträgerin nicht nur formal: während bei Munro immer eine allgemeine soziale Ordnung vorhanden ist, mit der die Protagonistinnen in Konflikt geraten, ist bei Cusk alles in Auflösung begriffen und die (vergebliche) Suche nach Strukturen und Stablilität ein zentrales Thema.
Begegnungen mit Faye
Die geschiedene Schriftstellerin Faye läuft in diesen Bänden durch London und andere Städte und begegnet immer neuen Menschen, die sie in kurzen, intensiven Gesprächen bis auf ihren Kern durchdringt. Über die Ich-Erzählerin Faye selbst erfährt man direkt nur wenig. Man lernt sie in ihrer Art, Gespräche zu führen und in ihren Kommentaren kennen. Durch das, was sie ihrem Gegenüber entlockt. Diese Spiegelung erzeugt zugleich Spannung und Vergnügen – Trauert sie dem ehemaligen Liebhaber nach? Was hält sie von den Avancen des griechischen Mitreisenden, der sie hofiert? Warum finden ihre Kinder zu Hause den Schulweg nicht, während sie im Ausland ist? Möchte sie etwa mit dem Bestsellerautor tauschen, der sich vor ihr aufplustert? Solche Fragen ziehen mich beim Lesen zu ihr hin, ohne dass ich sie wirklich erreiche.
Skurrile Figuren und ernste Fragen
Mein Staunen kommt aber von der Kompaktheit, Schärfe und feinen Ironie, mit der sie die Figuren skizziert und seziert. Etwa die Mutter, die sich jeden Morgen nachdem sie ihre Kinder zur Schule gebracht hat, ins Bett legt und einen Roman nach dem anderen liest. Oder der Vater, der seinen Job aufgibt, um endlich bei der Familie zu sein – außer seinem Hund hat allerdings niemand auf ihn gewartet und der stirbt kläglich. Andere Beispiele sind der hochbegabte Junge, der mit seiner Mutter in einer intellektuellen Symbiose lebt und die Teilnehmer ihres Schreibkurses in Griechenland, die ihren Hinweg erzählen sollen.
In diesen Figuren werden immer aufs Neue meisterhaft skurrile Variationen ähnlicher Fragen angelegt: Was sehen die anderen in uns? Und was kommt nach der Auflösung vertrauter Strukturen? Was bedeutet Gelingen heute und wie ist es möglich? Diese und andere Fragen werden an Familien und Künstler, Männer und Frauen immer wieder neu gerichtet ohne dass es eine endgültige Antwort geben könnte. Doch am Ende der drei Bände habe ich das Gefühl, mehr über mich selbst und alles andere erfahren zu haben.
Rachel Cusk: Kudos. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné, Berlin: Suhrkamp 2018, 215 Seiten.